Archiv der Kategorie: Marko Marija Gregorić

Schriften des befreundeten Autors Marko Marija Gregorić

Die Verwandlung der Ökologie

Das Thema Umwelt/Ökologie beschäftigt mich schon länger. Ich interessierte mich mehr dafür, als ich noch das Gymnasium in den frühen 90er Jahren des letzten Jahrhunderts besuchte. Damals stieß ich auch zum ersten Mal in meinem leserlichen Herumwandern auf das Wort „Ökologie“, meist als Adjektiv „ökologisch“. Meine Lieblingslektüren waren damals noch die von Jack London und Hermann Hesse – von Schriftstellern, die mir seitdem in meinem Gedächtnis verbunden geblieben sind, obwohl sie wahrscheinlich nichts miteinander zu tun haben, außer, dass sie beide ihre Werke im 20. Jahrhundert schrieben. Ich meinerseits habe, gemäß der vagen Vorstellung, die ich unter dem Einfluss dieser Literatur erworben habe, dieses „Ökologische“ spontan in erster Linie als einen subversiven Gedanken verstanden, der sich gegen die moderne, industrielle, entmenschlichende, technische Zivilisation richtet, die einerseits die bezaubernde „Wilderness“ zerstört und andererseits auch die Menschenseele.

Das Lesen der Lektüre „Schöne neue Welt“ hat diese Vorstellung weiter gefestigt und meine Sympathie für dieses Mysterium verstärkt. Was ich hier und da über die Aktionen von Greenpeace hörte, weckte in mir Ehrfurcht. Die Rede von „Mutter Erde“, woher sie auch immer kam (ich hatte die Quellen damals nicht überprüft), neckte stark und unerbittlich eine gewisse pseudo-religiöse Sensibilität oder einen Instinkt in mir, der zum Guten oder Schlechten oder beidem mein Erleben der Welt prägte.

Im Laufe der Zeit und durch die Lektüren einiger anderer Autoren, die eher anarchistisch ausgerichtet waren, kamen in mir jedoch Zweifel über den wahren Charakter der Ökologie auf. Mich hat der unangenehme Gedanke gestochen, dass die Ökologie, sowohl in ihrer Praxis als auch in ihrer Theorie, keine Kraft ist, die gegen die erwähnte Zivilisation wirkt, sondern im Gegenteil mit ihr einhergeht. Und wie es bei unangenehmen Gedanken so üblich ist, wurde meine Besessenheit mit dieser Frage von mir stärker und unerbittlicher, je mehr ich versuchte, sie zu unterdrücken. Aber irgendwann schienen meine Bemühungen in dieser Hinsicht Früchte zu tragen.

Dieser entscheidende Moment, der jahrelang andauerte, kam dank meiner Bekanntschaft mit dem Werk von Bruno Latour. Bruno Latour, der Philosoph und Soziologe, den ich in meinem letzten Buch als „Vater des neuen ökologischen Denkens“ bezeichnet habe und der meiner Meinung nach immer noch diesen Titel verdient, ist in der Tat nicht nur im streng ökologischen „Diskurs“, sondern auch in der neueren Philosophie und Soziologie im Allgemeinen eine Ausnahme . Diese Außergewöhnlichkeit rührt in erster Linie von dem her, was ich am liebsten als die Eleganz des Denkens bezeichnen würde. Bei intensiver Lektüre und Übersetzung der Texte der zeitgenössischen Philosophie und der „Geisteswissenschaften“ in den letzten zwanzig Jahren fällt mir auf, dass das zeitgenössische Denken, wenn überhaupt von etwas, dann von Stillosigkeit geprägt ist.

Ich wage sogar zu behaupten, dass ab Gilles Deleuze alle Philosophen und „Humanisten“ mehr oder weniger gleich schreiben. Sie produzieren das, was ich Universitätsliteratur nenne. Alles, was sie schreiben, ist innerhalb der Grenzen der vorgeschriebenen und präskriptiven Wissenschaft. Natürlich ist es ein Urteil, das keinen überzeugenden, geschweige denn autoritativen Wert hat, denn es ist das Urteil eines Menschen, der sowohl Philosophie als auch Wissenschaft als eine Art Literatur liest.

Aber gerade in dieser rein „subjektiven“ kritischen Optik erweist sich Bruno Latours Denken als ganz anders und frisch und neu und anregend, also stilistisch besonders. Denn im Kern dieser Optik und heute bereits fossilisierten kritischen Tradition ist Stil nicht in erster Linie eine ästhetische Kategorie.

Sondern eine anthropologische und ethische Kategorie. „Stil ist der Mensch selbst“ oder „der ganze Mensch“, sagte einer der Begründer dieser Tradition, Graf Buffon. Was Latour betrifft, so unterscheidet sich bzw. unterschied sich seine Denkweise über Wissenschaft, aber auch über Politik und Gesellschaft im Allgemeinen so sehr – oder genauer gesagt – von der Art und Weise, wie die meisten heutigen Experten aktuelle und weniger aktuelle Themen betrachten und bildet einen der wertvollsten und permanentesten Beiträge dazu, was vom freien, lebendigen, ungehorsamen europäischen Denken übrig geblieben ist.

Aber leider ist dieser Beitrag, wie im letzten Satz angedeutet, etwas, über das es sich lohnt, in der Vergangenheitsform zu sprechen. Denn Latours Denken hat in den letzten fünfzehn Jahren eine radikale Wandlung durchgemacht – und das zum Schlechten.

Das heißt, immer weiter weg vom wahren „Denken-Schreiben“ und immer näher an der Universitätsliteratur. Ich habe hier nicht die Gelegenheit, einen umfassenderen Überblick über diesen abweichenden Weg zu geben, aber er zeigt sich nach dem Gesagten am deutlichsten, weniger in seinen Schlängelungen und Verzweigungen als in seiner allgemeinen Richtung.

Zusammengefasst und vereinfacht ausgedrückt war der Weg Latours ein Weg, der von einer Kritik an dem, was der Autor einst den „Mythos der Wissenschaft“ nannte, ausging und sich immer mehr in Richtung der Verteidigung bewegte, die der Autor immer noch „Techno-Wissenschaften“ nennt.

Und eine Logik, die von einer breiten und reichen Vision der Ökologie als etwas mit Gedankenfreiheit und Demokratie mit dem Erbe der französischen Aufklärung ausging und sich in einer verdrehten und diskret eleganten Weise bewegte, aber dennoch spürbar, sich immer mehr in Richtung einer oberflächlichen und dogmatischen Ökologie von heute begab.

Das alles hat verständlicherweise mit der Corona-Krise weitgehend einen neuen Aspekt und eine neue Bedeutung bekommen. In der Latour von Anfang an versprochen hat, sich als jemand zu zeigen, der viel zu sagen hat. Und tatsächlich hatte er viel zu sagen. Aber er fing bald an, es so zu sagen, dass die beschriebene Richtung zu offensichtlich wurde, um nicht mehr ignoriert zu werden. Es ist allzu offensichtlich geworden, dass er, indem er viel Wichtiges sagt, auch viel Wichtiges auslässt und dass sein öffentliches Sprechen auf diesem Schweigen basiert.

Das wurde irgendwann so offensichtlich, dass ich beschloss, mich an Latour selbst zu wenden und ihn um eine Erklärung zu bitten. Der Eitelkeit der hervorragendsten Intellektuellen bewusst, begann ich sanft und rücksichtsvoll, präsentierte mich als begeisterter Übersetzer seiner Texte, als Sympathisant und sogar als Anhänger, der seine kritischen Fragen in Lobreden und Paraphrasen tarnte. Aber vergeblich antwortete mir der angesehene Professor nicht, und ich kam zu dem Schluss, dass er Wichtigeres zu tun hatte und wusste zudem, dass er an Krebs litt. Daher beschloss ich, aufzugeben.

Das Problem trat jedoch auf, als ich ihm, entgegen meiner Entscheidung und von einem unwiderstehlichen Stich gestochen, kurz darauf eine E-Mail schrieb, in der ich auf seine aktuelle Interpretation von Kafkas Verwandlung reagierte, die er im Internet während des Lockdowns veröffentlichte. Ich empfand seine Interpretation nämlich als zutiefst falsch, trügerisch und sogar skandalös.

Meine Reaktion war sehr heftig. Ich gebe zu, ich habe die Worte nicht gewählt. Ich finde es nämlich schwer zu ertragen, wenn sich jemand ungebeten anmaßt, Kafka zu kommentieren. Und vor allem, wenn dieser Jemand ein  Universitätsprofessor ist und auch der neo-szientistischen Religion angehört. Kurzum, ich habe Latour eingeladen, mit mir eine öffentliche Debatte darüber zu führen. Daraufhin antwortete er mir, indem er mich mit „lieber Freund“ ansprach, aber erklärte, dass „er nicht einsieht, warum er diese Polemik beginnen sollte.“

Soweit ich seinen lakonischen Äußerungen entnehmen konnte, hielt er „sein Sterben an Krebs“ und seine originelle Interpretation der berühmten Geschichte, die, wie er sagt, die Leser berührt, für eine ausreichende Rechtfertigung für seinen Klatsch über Kafka.

Also beschloss ich eindeutig, wieder den Mund zu halten. Aber wie der Teufel es wollte, fing er darauf an, in Interviews auf verschiedenen sehr gesehenen Sendern und Plattformen (nicht wie jemand, der zu sehr an Krebs stirbt)  noch größeren Unsinn über alles und jedes, einschließlich Literatur und Religion, zu plappern und kehrte damit zu „meinem Interessen-Feld“ zurück. Deshalb fühlte ich mich verpflichtet, ihm, da ich schon die Gelegenheit hatte, noch ein paar längere E-Mails zu schreiben.

Und wieder muss ich zugeben, dass ich nicht wirklich auf die Wortwahl geachtet habe. Als mir endlich klar wurde, dass ich vielleicht übertrieben hatte, entschuldigte ich mich für meine freie Rede und beendete – so dachte ich – meine größtenteils Monologkorrespondenz in einem versöhnlichen Ton. Aber auch hier stellte sich meine Meinung als falsch heraus.

Zu meiner Überraschung und aus für mich immer noch unverständlichen Gründen (vielleicht aus Unkenntnis der Spam-Blockierungsmöglichkeit?) antwortete mir mein Korrespondent gerade in einer kurzen E-Mail, in der er mich immer noch mit einem höflichen „cher ami“ ansprach. Er schrieb, dass „er nicht verstehe, warum ich ihm diese Briefe schreibe, wer ihm schreibt und an wen sie gerichtet sind“ [sic] und wie „er sich doch freuen würde, wenn er mir einige Frage beantworten könnte“.

In der Erkenntnis, dass der Mann meine E-Mails, gelinde gesagt, nur flüchtig gelesen hatte, weil alles darin voller sehr klarer Fragen war und ich mich ihm in jeder von ihnen vorgestellt hatte, habe ich beschlossen, ihm erneut eine Hauptfrage bzw. eine komplexere Frage und eine Unterfrage zu stellen. Und wie erwartet, habe ich darauf keine Antwort erhalten.

Diese Fragen lauteten kurzgefasst:

1. Sind Sie der Meinung, dass „Technowissenschaften“ eine Rolle bei der Verursachung und Verschärfung der Klimakrise hatten bzw. immer noch haben?  Wenn Sie das wenigstens in gewisser Weise zugeben, warum sind dann Wissenschaft und Wissenschaftler (ausgenommen der „Klimaskeptiker“) von ihrer Kritik ausgenommen? Sind Sie sich der Tatsache bewusst, dass Sie mit diesem Ausschluss den Anschein erwecken, dass Sie jegliche Verantwortung für die Krise auf politische und wirtschaftliche Akteure legen und dass Sie auch selbst zu denen gehören, die laut ihren eigenen Worten Wissenschaft weiterhin als „heiliges Kalb“ betrachten? Oder meinen Sie, wie es mir scheint, dass „Technowissenschaften“  das uns einzig übrig gebliebene Mittel sind, mit dem wir die „Klimakrise“ unter Kontrolle bringen können? Sind diese ihrer Meinung nach unser einziges Schicksal? Ist es in diesem Fall für Sie gerechtfertigt, die Schlussfolgerung zu ziehen, dass das „Neue Klimaregime“ auf einer rein wissenschaftlichen Basis fußen sollte? Was die Kunst, die Sie in den letzten Jahren neben der Wissenschaft als wichtige Kraft bei der Schaffung dieses neuen experimentellen Kollektivs hervorheben, angeht, können Sie mir verneinen, dass diese Kunst heutzutage völlig wissenschaftlich bzw. sie völlig wissenschaftlichen Zielen unterworfen ist? Was den Typus von Sozialismus betrifft, für den Sie sich einsetzten (Sozialdemokratie oder etwas Ähnliches), können Sie verneinen, dass auch er völlig von der Entwicklung und Praxis der „Technowissenschaften“ abhängt? Bleibt denn im Licht der aktuellen Geschehnisse in der Corona-Krise irgendein Teil des menschlichen Lebens außerhalb der Reichweite der Wissenschaft? Wenn das nicht der Fall ist, würde ich gerne wissen, wie sich die heutige Wissenschaft von dem unterscheidet, was Sie einst den „Mythos der Wissenschaft“ nannten?

2. Im Falle, dass Sie keine Zeit/Lust haben, sich mit solchen Komplexitäten zu beschäftigen:  Sind Sie sich dessen bewusst, dass das „Neue Klimaregime“, für das Sie sich einsetzten, einige Leute (einschließlich den Schreiber dieser Zeilen) unwiderstehlich an das Kollektiv, das in Huxleys Roman „Schöne neue Welt“ beschrieben ist, erinnert?

***   

Obwohl es Zynikern anders erscheinen mag, hatte ich nicht die Absicht, Latour zu verunglimpfen und sich an ihm „zu rächen“. Ich tat dies auch nicht, um, wie einige in den USA vielleicht meinen, meine schmerzliche Enttäuschung über die Ökologie als solche auszudrücken. Was Latour betrifft, so halte ich ihn immer noch für ehrlich und für einen aufrichtigen Intellektuellen, mehr noch für einen wahren Nachfolger von A. N. Whitehead und einen der wenigen lebenden Philosophen, die es wirklich wert sind, gelesen zu werden.

Was meine Einstellung zur Ökologie en général betrifft, so ist dieser jugendliche Zweifel in mir trotz meiner Sympathien nie ganz verschwunden und ich bin glücklicherweise zu keinem Zeitpunkt der Versuchung erlegen, ihr mein Herz zu schenken.

Von großer Enttäuschung à l’américaine kann also keine Rede sein. Der Grund, warum ich meine Abenteuer mit Latour in einem Artikel über Ökologie darstelle, ist einfach und scheint mir ziemlich klar.

Ich tat dies, weil sein Fall am besten zeigt, was aus ökologischem Denken geworden ist. Die Erkenntnis, zu der ich insbesondere durch das Studium von Latour gekommen bin, gerade weil er der Beste aus dieser Schule „des neuen ökologischen Denkens“ ist, ist, dass sie sich größtenteils ins eigene Gegenteil verkehrt hat. Sie hat sich in ein Un-Denken oder gar Gegen-Denken verwandelt. Dadurch, dass sie ihr Denkprinzip verloren hat, verwandelt sich die Ökologie immer mehr in reinste Technik, ein privilegiertes Mittel für die Implementierung einer neuen globalen technokratischen Ordnung, deren antidemokratischer und antihumanistischer Charakter größtenteils noch von einem Propaganda-Schleier umhüllt ist. Aber der, da bin ich mir sicher, sich mit der Zeit unweigerlich zeigen wird.

Autor: Marko-Marija Gregorić (Ersterscheinung in kroatischer Sprache auf der Internetseite nemo casopis im Juni 2021)

Übersetzung: Natali Tabak Gregorić

Lektur: Dana Jungbluth

(Bildnachweis: Pexels)


Gastbeiträge spiegeln nicht automatisch die Meinung von mir als Seitenbetreiber wider; sie sollen Ihnen lediglich weitere Perspektiven auf das Leben eröffnen, die Sie selbst entsprechend Ihrer eigenen Gefühle für Ihren individuellen Weg einordnen und zum Nachdenken nutzen mögen.

Wie gesund ist unsere Welt?

Persönlich halte ich die Sorge für die eigene Gesundheit für etwas Wesentliches. Ich betrachte sie in der Tat als eine unbestreitbare und höchste (aber nicht erhabenste) „Tugend“. Unter dieser Sorge meine ich in erster Linie das, worauf sie sich ursprünglich bezieht, nämlich die Körperpflege mit all dem, was dazu gehört: persönliche Hygiene, gesunde Ernährung, ein Arztbesuch bei Bedarf, wirksame Formen der Vorbeugung vor Krankheiten und vor allem regelmäßige Bewegung. Was Letzteres betrifft, wenn dies auch Wandern und Radfahren umfasst, nimmt mein Respekt für diese Formen der Sorge für die eigene Gesundheit sogar leidenschaftliche Dimensionen an. Viele Male in meinem Leben, aber besonders seitdem ich zu einem extrem sitzenden Lebensstil verurteilt worden bin, konnte ich mich selbst von der immensen und unschätzbaren Nützlichkeit regelmäßiger und methodischer körperlichen Aktivität überzeugen. In der Tat kann ich ohne zu zögern sagen, dass mich meine morgendliche Gymnastik, das häufige Spazierengehen und Radfahren gerettet haben – wenn nicht aus einem Krankenhausbett oder gar einem Rollstuhl, dann sicherlich vor chronischen Kopfschmerzen, Reizbarkeit und wahrscheinlich auch vor Depressionen.

Ich habe daher nicht viel Verständnis für diejenigen, die die Bedeutung der körperlichen Gesundheit zugunsten von Fantasien über „wichtigere Dinge im Leben“ herunterspielen. Diese Spiritualisten, diese Neo-Manichäer, diese Pseudo-Platoniker, meist jüngere Menschen, die an Komfort gewöhnt sind und noch nie in ihrem Leben schwer krank waren, leben meist in der Illusion, dass es möglich ist, geistig gesund zu sein, d.h. alltäglichen Aufgaben nachgehen zu können, fähig zu sein das Leben zu genießen, denkfähig zu sein und nach der Wahrheit zu suchen, vor allem aber fähig für Kreativität zu sein, ohne dabei körperlich gesund zu sein.

Sie haben einen wirklichen und lang anhaltenden Schmerz, seine wahre Bedeutung, (noch) nicht kennengelernt: den Schrecken dessen, was das größte Genie unter den Ärzten und der größte Arzt unter den Genies, François Rabelais, im 16. Jahrhundert als „abios bios, bios abiotos“ beschrieben hat – in einer ungefähr wörtlichen Übersetzung „Leben kein-Leben, Leben unmöglich zu leben“. (život ne život- život nemoguć za življenje)

Gesundheit ist jedoch nicht nur eine physische und mentale Realität. Sie ist auch eine soziale Realität. Mehrere bedeutende Philosophen und Soziologen des 20. Jahrhunderts haben im Detail gezeigt, wie in modernen Gesellschaften diese soziale Dimension der Gesundheit im Laufe der Zeit an Dominanz gewonnen hat. In unserer Zeit scheint das Problem der Gesundheit jedoch zu einer sozialen Realität zu werden, zum Nachteil der ersten beiden Realitäten.

Unter dem Druck der gegenwärtigen Gesundheitskrise verliert der Gesundheitsansatz fast alle Eigenschaften des Privaten, all das, was die Gesundheitsfürsorge auf den einzelnen Menschen und seine mehr oder weniger unmittelbare Umgebung beschränkt. Sie wird zu einem vollständig öffentlichen, „globalen“ Gut.

Es ist nicht unvorstellbar, dass in absehbarer Zeit niemand mehr alleine gesund oder krank sein kann. Es ist nicht unvorstellbar, dass Gesundheit bald mit dem Gesundheitswesen gleichgesetzt wird.

Die fortschreitende Technisierung, Standardisierung und Popularisierung der Gesundheit hat eine beispiellose Kollektivierung und Depersonalisierung von Patienten ermöglicht, einschließlich potenzieller Patienten – bzw. uns aller. Diese Kollektivierung und Depersonalisierung, in einer globalen Gesundheitskrise wie dieser, zeigt sehr besorgniserregende Auswirkungen.

In dieser Hinsicht sprechen einige der mutigeren Denker von heute, wie Giorgio Agamben, von „technisch-medizinischem Despotismus“ und einer totalen „Medizinisierung des Lebens“ als zunehmend real werdenden Bedrohungen.

Andere, wie die Führer der christlichen Kirchen in Großbritannien, warnen in die gleiche Richtung vor den Gefahren der „medizinischen Apartheid“ aufgrund der Einführung von Covid-Impf-Pässen.

In Frankreich, das stets führend ist, wenn es um kollektive öffentliche Aktionen in Europa geht, wurden verschiedene „RE-Informations“ – Online „Kollektive“ eingerichtet, um vor den katastrophalen Folgen der derzeitigen Gesundheitsmaßnahmen für die „soziale Gesundheit“ zu warnen.

Obwohl diese beunruhigenden Stimmen offensichtlich mit aller Kraft versucht werden, zum Schweigen gebracht zu werden, sind sie glücklicherweise immer noch hörbar und stellen wohltuende Ausnahmen innerhalb der derzeitigen Massen-Taubheit dar.

Es gibt jedoch etwas, das fast alle diese Kritikpunkte aufgrund der Umstände eher ignoriert. Es ist eine Tatsache, dass eine solche Entwicklung von Gesundheitspraktiken eng mit einer grundlegenden Änderung der Einstellungen zum menschlichen Körper verbunden ist, eine Änderung, die sich allmählich in der Erfahrung und Wahrnehmung des Körpers in Gesellschaften vollzogen hat, die sich selbst einst als christlich bezeichneten.

Verständlicherweise sind heutzutage nur wenige bereit, sich mit solch schwierigen „metaphysischen“ Fragen den Kopf zu zerbrechen, da es offensichtlich viel wichtigere Probleme gibt, die dringend angegangen werden müssen.

Wir werden später, nach der Krise, über solche interessanten Dinge nachdenken, wenn die Dinge wieder in Ordnung sind und wir uns ein wenig entspannen können. Eine solche pragmatische Haltung ist verständlich; das heißt aber nicht, dass sie gerechtfertigt ist. Das genaue Gegenteil ist der Fall.

Denn eine solche Einstellung ist eines der Haupthindernisse für die Lösung dieser dringenden Probleme. Ein fieberhafter Fokus, der oft mit Panik, Zahlen und Statistiken verbunden ist, ist eine Falle, die verhindert, dass man tiefer über ein Problem nachdenkt und es dann zu lösen beginnt – oder erkennt, dass es unlösbar ist und irgendwie lernt, damit zu leben.

Jede Berührung mit der Realität erfordert ein wenig Abstand, offene Augen und einen kühlen Kopf. Ohne sie wird der Mensch ungewollt in virtuellen Propaganda-Strudeln verschluckt.

Ich kann hier nicht alle durchdringenden Einsichten von Ivan Illich offenlegen, dem Mann, der sich am ausführlichsten mit der Frage des Körpers und dem Geflecht der Beziehungen zum Körper in westlichen Gesellschaften befasste, aus denen das moderne Konzept von Medizin und Gesundheit hervorging.

Ich werde nur auf seine Betonung des Schlüsselübergangs in dieser Angelegenheit hinweisen: den Übergang von dem, was er den „erfahrenen Körper“ nannte, zu dem, was er als den „diagnostischen Körper“ bezeichnete.

Um diesen Übergang zu veranschaulichen, führt Illich unter anderem ein Ereignis aus seinem Leben an. Einmal rief er einen Bekannten an, bei dem Krebs diagnostiziert worden war und der eine Chemotherapie erhalten hatte. Illich fragte ihn, wie es ihm denn gehe?

Der Bekannte antwortete, dass er ihn doch am nächsten Tag nach 11 Uhr anrufen solle, wenn die Diagnose vorliege. Dann könne er ihm sagen, wie es ihm gehe. Illich zitiert viele weitere ähnliche Reaktionen, die er von Patienten in modernen Krankenhäusern gehört hatte, die alle bezeugen, dass ein Patient, der ohne Überbleibsel in einen klinischen Patienten verwandelt wurde, die unmittelbare Erfahrung seines Körpers verliert, indem er seine Beziehung zu seinem eigenen Körper mittels von Diagnosen und durch technische Analysemechanismen bestimmt.

Die Perspektive, die uns Autoren wie Illich eröffnet haben, ist äußerst wertvoll, weil sie es uns ermöglicht, auch die gegenwärtige Situation umfassender und mit Abstand zu betrachten.

Sie ermöglicht es uns, die wirklichen Akteure hinter dem gesamten heutigen „Diskurs“ der Gesundheitsversorgung zu durchschauen.

Wenn wir uns beispielsweise auf vernetzte Apps aller Arten von „Systemen“ einlassen, einschließlich Systemen zur Förderung der richtigen Ernährung und eines lobenswerten Lebensstils, Systemen zur Förderung der richtigen Bewegung zu Hause, psychologischen Hilfesystemen, Testsystemen, Systemen zur Überwachung potenzieller Virenüberträger, Risikobewertungssystemen usw., entdecken wir hinter all diesen Mechanismen, wenn wir die Einsichten, die von einer ganzen Reihe von Autoren wie Illich, Ellul, de Certeau und Foucault kommen, verstehen, Techniken der Massengewöhnung, um das Unannehmbare anzunehmen.

Die Bedingungen, denen wir so ausgesetzt sind oder sein könnten, sind nicht erträglich. Dies sind, wie Illich sagen würde, komplexe Methoden zur Konditionierung und Auslösung mehrerer „konditionierter Reflexe“, mit denen der diagnostische Körper massiv versucht, sich in einen ERLEBTEN Körper zu verwandeln.

Und es besteht keine Notwendigkeit, hier Verschwörungen einzuführen. Das würde nur die Sicht verdecken. Das ist letztendlich nur unnötig beruhigend und in gewisser Weise vielleicht auch wohltuend.

Wie immer ist die Realität eine ganz andere und viel schlimmer als ihre Interpretationen.

Im Gegenteil, sollte anerkannt werden, dass in der heutigen beispiellosen Depersonalisierung, Dekarnation und Patientisierung der Welt Kräfte und „Systeme“ mehr oder weniger unabhängig von Einzelpersonen und Gruppen funktionieren können, unabhängig von selbst traditionellen „Machtzentren“, einschließlich klassischer staatlicher und administrativer Strukturen.

Es sollte anerkannt werden, dass das gesamte Problem, in dem wir uns befinden, in erster Linie zivilisatorisch ist. Weil sich dahinter jede Chance verbirgt, dass das, was wir heute erleben, die ersten klaren Anzeichen dafür sind, was manche Analysten heute – mit einem etwas archaischen Konzept und ohne genau zu wissen, wie sie es bezeichnen sollten – eine „technokratische Gesellschaft“ nennen.

Autor: Marko-Marija Gregorić (Ersterscheinung in kroatischer Sprache auf der Internetseite nemo casopis)

Übersetzung: Natali Tabak Gregorić

Lektur: Dana Jungbluth

(Bildnachweis: Pexels)


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Propaganda gestern und heute

Nach einer geraumen Latenz, verborgen in den Ecken der intellektuellen Welt, trat mit der Massenerscheinung von „fake news“ das Thema Propaganda wieder in die öffentlichen Debatten ein. Und sie tat es durch eine breite Tür.

Über Propaganda wurde intensiv geschrieben und gesprochen, nicht nur in Internetforen und sozialen Netzwerken, sondern auch an Fakultäten, Instituten und in Ministerien.

Propaganda ist wieder Gegenstand wissenschaftlicher Studien geworden. Es werden Dokumentar – und Lehrfilme  darüber gedreht. Historiker erforschen erneut die Propagandaaktionen von Hitler, Stalin und Mao und versuchen, die heutige Propaganda in diesem Licht zu erklären.

Auf internationaler Ebene wurde sogar ein Medium zur Überprüfung von Fakten eingerichtet, das für die Aufdeckung von Datenfälschungen zu Propagandazwecken zuständig ist. Im Allgemeinen ist es klar und verständlich, dass in einer „post-faktischen“ Gesellschaft der Wert von Fakten an Bedeutung gewinnt, weil Fakten – identifiziert mit „Wahrheit“ – gefährdet  und Verzerrungen ausgesetzt sind, die sehr verheerende reale Auswirkungen in einer Welt, die vollständig virtuellen Faktoren unterliegt, haben können.

Wie dem auch sei. Der heutige globale Kampf gegen Propaganda hat eine sehr bemerkbare Charakteristik. Diese ist, dass er trotz seinem Interesse für die Vergangenheit, tiefere Studien des Phänomens Propaganda aus dem vergangenen Jahrhundert völlig ignoriert.

Er reduziert Propaganda mehr oder weniger auf „falsches Informieren“, um politische und wirtschaftliche Macht zu erlangen, und geht damit über die wichtigsten Propagandaeinsichten hinaus, die frühere Denker gewonnen haben, die sich aus verschiedenen Blickwinkeln mit dieser Problematik befasst haben.

Denn all diese Denker haben gezeigt, dass Datenmanipulation nur die gröbste, oberflächlichste und harmloseste Form der Propaganda ist. Sie haben gezeigt, dass Propaganda ein viel subtileres und viel komplexeres Phänomen ist, das mit den tieferen und grundlegenderen Strukturen der Gesellschaft zu tun hat, vor allem mit dem allgemeinen technologischen Fortschritt und seiner immer engeren Verbindung mit staatlichen Strukturen.

Jacques Ellul, der wohl größte Propaganda-Denker des 20. Jahrhunderts, hat dies in mehreren seiner Bücher besonders deutlich und ausführlich gezeigt. Sein Werk aus dem Jahr 1962 mit dem Titel “Propagandes” beginnt mit folgendem Satz:

„Echte moderne Propaganda ist Propaganda, die im Wesentlichen in die heutige Entwicklung der Wissenschaft passt.“ Ellul beschreibt dann auf 400 Seiten detailliert die Quellen, Formen und Mechanismen der Propaganda in verschiedenen sozialen Systemen und schließt mit Warnungen bezüglich „demokratischer Propaganda“ ab.

Ellul spricht von Propaganda in den Vereinigten Staaten und stellt fest, dass diese Art von Propaganda in allen westlichen Ländern, in denen der wissenschaftliche und technologische Fortschritt am ausgeprägtesten ist, allmählich dominiert. Er weist darauf hin, dass „Doktrinen“ und „Ideologien“ für Propaganda völlig nebensächlich sind.

Er stellt fest, dass Demokratie mit Hilfe von Propaganda auch zu einem Mythos wird und dass diese Transformation genau die gleichen Auswirkungen hat wie Propaganda in totalitären Regimen. Dabei zeigt Ellul mit der ihm innewohnenden Klarheit, dass die moderne Propaganda stark auf dem beruht, was er „Religion der Tatsachen“ nennt.

Diese Religion, argumentiert Ellul, ist eine grundlegende, außerideologische und nicht-doktrinäre Hochburg der „technischen Gesellschaften“, zu denen fast alle unsere Gesellschaften geworden sind.

Wenn wir die heutigen Propagandakämpfer betrachten, hören und lesen, haben wir den Eindruck, dass Schriftsteller wie Ellul nie existiert haben. Bei diesen „Faktographen“ finden wir keinen Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Propaganda und der Entwicklung von Wissenschaft und Technologie.

Wenn sie junge Menschen dazu bewegen, Daten zu überprüfen und selbst zu denken, ermutigen sie sie auch, die neuesten Apps zu verwenden und dazu, dass sie hoch entwickelten technischen Systemen zum Sammeln, Auswählen, Überprüfen und Verbreiten von Informationen vertrauen.

Weil jemandem vertraut werden muss – dies ist, wie jeder, der  sich mit Propaganda ernst befasst hat, das Hauptprinzip aller Propagandisten. Jemandem muss vertraut werden, man muss jemandem sein Vertrauen schenken und dieser Jemand sind – offensichtlich – wir.

Deshalb ist das erste, erkennbarste und unfehlbarste Zeichen der Propaganda, keinen Abstand, keine Skepsis und keine Diskussion zuzulassen. Die „Religion der Tatsachen“, die Tatsachen in höchste und unbestreitbare Werte verwandelt, bestätigt dies klar und in vielerlei Hinsicht, selbst mit dem stillen Schweigen seiner Vertreter, dass es sich in ihrem Fall um eine Frage der Religion handelt.

Um eine Atmosphäre zu haben, die eine echte, gründliche und wirksame Kritik der Propaganda ermöglicht, ist etwas erforderlich, das sich qualitativ von der Atmosphäre unterscheidet, die durch die oben genannten technischen Systeme und die von diesen Systemen geschaffenen „öffentlichen Bereiche“ erzeugt und aufrechterhalten wird.

Denn wie Ellul bemerkt, „ist Propaganda weniger die politische Waffe eines Regimes als vielmehr die Wirkung einer technischen Gesellschaft, die den gesamten Menschen umfasst.“ Je weniger diese umfassende Propaganda „gefühlt“ wird, je subtiler sie ist und je mehr sie auf dem basiert, was Ellul als die „unbewussten Reflexe der Masse“ bezeichnet, desto mächtiger ist sie, weil sie die Illusion vermitteln kann, dass es sich nicht um Propaganda handelt, sondern um etwas, das gegen Propaganda wirkt.

Satan verkleidet sich nach seinem alten Brauch als Engel des Lichts und tut dies auch nach seinem alten Brauch unbemerkt.

Wenn Elluls Erkenntnisse auf die heutige Situation angewendet werden, zeigt sich, dass Propaganda noch nie so weit verbreitet und mächtig war wie heute.

Und es zeigt sich, dass die heutigen vielbeschäftigten Kämpfer für „Wahrheit“ gegen „Lügen“ meist nur moderne Kreuzritter der neuen absoluten Wahrheiten sind.

Autor: Marko-Marija Gregorić (Ersterscheinung in kroatischer Sprache auf der Internetseite nemo casopis)

Übersetzung: Natali Tabak Gregorić

Lektur: Dana Jungbluth

(Bildnachweis: Pexels)


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Egalitarismus heute?

Auch ohne sich eingehender mit dem Problem zu befassen, scheint es  offensichtlich, dass Egalitarismus und Demokratie eng miteinander verbunden sind. Geschichtlich betrachtet, sind sie das allemal. Kein Experte wird das verneinen; ganz im Gegenteil. Alle werden mehr oder weniger zustimmen, dass die Idee der sozialen Gleichheit, wie sie in der Unabhängigkeitserklärung und im Motto der Revolution formuliert ist, die Grundlage einer demokratischen und keiner anderen Ordnung ist: In anderen mag es Hinweise auf Egalität gegeben haben, aber in keiner von ihnen war sie oder könnte sie das Leitprinzip sein.  Die ganze Angelegenheit wird durch die Verbindung der Demokratie mit dem Liberalismus sowie insbesondere durch die historische Radikalisierung des Egalitarismus im undemokratischen Kommunismus sehr kompliziert.

Dennoch bleibt die Verbindung zwischen der sozialen Idee von Gleichheit und Demokratie  bestehen. Es ist weder zufällig noch unbegründet, dass der größte lebende Denker der Demokratie, Jacques Rancière, Demokratie nur mit Egalitarismus identifiziert und wahre Demokratie als „praktisches Auftauchen“ der Gleichheit in einem bestimmten Kollektiv zu einem bestimmten Zeitpunkt betrachtet.

Das egalitäre Prinzip hat in den letzten Jahrzehnten jedoch eine besondere und interessante Entwicklung erfahren und erreicht derzeit eine Art transformativen Höhepunkt. In der gründlichen und universellen Transformation von Gesellschaften wurde dieses Prinzip logischerweise transformiert und zeigt nun neue Eigenschaften. Die wichtigste und auffälligste Veränderung in dieser Hinsicht ist, dass sie sich von etwas, auf dem eine radikale Kritik der Gesellschaft und ihrer Ungerechtigkeiten fast ohne Rest beruhte, in ein Konformitätsprinzip und eine Säule sozialer Kontrolle verwandelt hat. Im Namen von Égalité fördern die heutigen Egalitaristen zunehmend verschiedene Formen ideologischer und sozialer Spaltungen und unterstützen zunehmend offen staatliche Kontrollmechanismen, einschließlich der Zensur, Dämonisierung und sogar Kriminalisierung von Andersdenkenden, die eklatanteste „Konsens-Herstellung“. Ihre Aktivität in den Medien, auf die sich ihr Engagement heute aufgrund der Umstände reduziert, bestätigt dies deutlich, sodass dieser Grundsatz unglaublich bedeutsam wird.

Beispielsweise ist der kürzlich vom renommierten Medienhaus Arte veröffentlichte Film La fabrique de l’ignorance (Die Fabrik der Unwissenheit) ein klares Beispiel für technowissenschaftliche Propaganda.  In diesem Film wird „Wissenschaft“ auf essenzialistische Weise als etwas dargestellt, das nicht das Produkt der Gesellschaft und der sich verändernden sozialen Beziehungen ist, sondern der einzige Ausdruck des „unendlichen Wissensbedürfnisses des Menschen“ ist.  Die Gesellschaft möchte diese Wissenschaft hauptsächlich unterdrücken (in der Vergangenheit war das die Kirche) oder für ihre unehrenhaften Zwecke ausbeuten (in der heutigen Zeit der Markt). Dementsprechend werden Techniker-Wissenschaftler als Heilige und Priester dieser neuen Religion dargestellt.

Hierbei sollte niemals vergessen werden, dass immer hinter irgendeiner Andeutung auf etwas „unendliches“, Religion steckt, egal worauf auch immer sich dieses Adjektiv bezieht. Besonders aber, wenn das Substantiv, auf das es sich bezieht, ein ebenso mächtiges Wort wie „Wissen“ ist.

Grundsätzlich scheint dieser Film mit der Absicht gedreht worden zu sein, alle Thesen über Propaganda von Jacques Ellul zu bestätigen: Perfekte technische Produktion, überlegene „Szenografie“, meisterhafte Blickwinkel, dramatische Musik kombiniert mit großartigen visuellen Effekten, um gute und schlechte Charaktere zu kontrastieren, versteckte Botschaften, sorgfältig eingefügte Suspensionen, hypnotische Erzählungen. Es ist alles da.

Man könnte sich fragen, was dies mit Egalitarismus zu tun hat. Aber das hat es, gerade wegen der oben erwähnten Transformation und der oben erwähnten Umkehrung der egalitären Idee. Dieser grundlegende Wandel ist eine direkte Folge der allgemeinen Technisierung der Gesellschaften und ihrer fragmentarischen Wirkung, der Zerstörung aller stärkeren sozialen Beziehungen, aber auch mit Hilfe der Propaganda der ideologischen und mentalen Zwietracht, zu der sie führt. Wie ich bereits irgendwo geschrieben habe und auf Chestertons berühmtem Scherz über verrückt gewordene Ideen aufbaue, entsteht das Problem mit dieser Art von Idee wie Gleichheit, wenn sie sich von anderen Ideen löst, wenn sie unabhängig wird, wenn sie sich in eine Art Absolut verwandelt.

Nach dem Motto der Revolution, das von links nach rechts gelesen werden sollte, wenn es Sinn machen soll – weil es so von denen gelesen wurde, die es geschaffen und praktiziert haben -, bildet Gleichheit das Bindeglied zwischen Freiheit und Brüderlichkeit. Gleichheit, der keine Freiheit vorausgeht und die nicht auf Brüderlichkeit abzielt, ist die schlimmste Art von Tyrannei. In dieser Hinsicht könnten Kierkegaards Kritik an jeglichem Egalitarismus und seine Verurteilung der „Einebnung“ immer noch sehr relevant sein. Aber die Situation wurde noch schlimmer, als sie sich verallgemeinerte.

In dieser erobernden sozialen Fragmentierung, in dieser globalisierten Egalitarisierung, die immer ausgefeiltere und gewalttätigere Propagandamechanismen anstrebt, alles bis zur Gleichsetzung einzuebnen, wobei nur die Unterschiede toleriert werden, die keine wirklichen Unterschiede sind und die große Allgleichheit nicht bedrohen können, wird die Geschichte der eigentlichen Demokratie in Frage gestellt. Dies mit dem klangvollen Wort „Solidarität“ zu überziehen, hilft wenig. Bei dieser Transformation, bei dieser Umkehrung ist der Schlüsselfaktor sicherlich der angeborene unkritische Glaube des Marxismus an Wissenschaft und Technologie. Und die heutigen Progressiven sind vorwiegend Marxisten oder Kryptomarxisten.

Im Allgemeinen wird es immer weniger möglich, progressiv ohne marxistisch oder kryptomarxistisch zu sein – und zwar nicht wegen des primitivierenden Einflusses reaktionärer „Populisten“, wie uns Progressive überzeugen wollen, sondern wegen des subtilen Einflusses ihrer eigenen intellektuellen Eliten.

Die vollkommen technisierte Wissenschaft, die in der Wissenschaft vergötterte Wissenschaft mit ihren Dogmen und ihrer Seelsorge, ihrem Priestertum und ihren Sakramenten ist, kann nicht nur nicht das Fundament einer demokratischen Gesellschaft sein, sondern behindert auch weitgehend ihre Schaffung. Und damit stellt sie auch folglich den gesamten Mythos der guten und bösen Jungs in Frage, auf dem die Cowboy-Version der Demokratie beruht. So besteht die Gefahr, dass diese Cowboy-Version der Demokratie zur einzig legitimen und einzig erreichbaren Version von Demokratie wird.

Autor: Marko-Marija Gregorić (Ersterscheinung in kroatischer Sprache auf der Internetseite nemo casopis)

Übersetzung: Natali Tabak Gregorić

Lektur: Dana Jungbluth

(Bildnachweis: Pexels)


Gastbeiträge spiegeln nicht automatisch die Meinung von mir als Seitenbetreiber wider; sie sollen Ihnen lediglich weitere Perspektiven auf das Leben eröffnen, die Sie selbst entsprechend Ihrer eigenen Gefühle für Ihren individuellen Weg einordnen und zum Nachdenken nutzen mögen.

Was bedeutet es heutzutage, ein großer Schriftsteller zu sein?

Es überrascht nicht, dass die Entscheidung, Peter Handke einen Nobelpreis für Literatur zu verleihen, viele heftige Reaktionen ausgelöst hat. Es ist auch keine Überraschung, dass die Reaktionen – insbesondere von professionellen Schriftstellern und Intellektuellen, die sich am meisten dazu verpflichtet fühlen, solche Reaktionen hervorzurufen – zumeist auffallend einheitlich, banal, wenn nicht sogar ganz und gar klischeehaft sind. Meiner Meinung nach liegt es daran, dass die ganze Frage fast zwangsläufig in falscher und oberflächlicher Weise gestellt wurde.

Handke ist ein großartiger Schriftsteller, aber er hat sich politisch verirrt – dies ist ungefähr das Mantra, das von Meinungsbildnern akzeptiert wird, die sich entweder für oder gegen dieses aussprechen. Die ersten sind diejenigen, die Wert auf den ersten Teil des Mantras legen und der Meinung sind, dass seine Größe als Schriftsteller Vorrang vor seinen politischen oder moralischen Abweichungen hat und dass er den Nobelpreis verdient hat. Die zweiten sind diejenigen, die dem zweiten Teil des Mantras Vorrang geben und behaupten, dass ein Schriftsteller, wie groß er auch sein mag, ein moralisches Vorbild sein sollte, um einen solch universell anerkannten und äußerst prestigeträchtigen Preis zu erhalten. Aber keine Seite wirft die Frage auf, die mir wesentlich erscheint: Was macht einen Schriftsteller großartig bzw. was bedeutet es, ein großartiger Schriftsteller zu sein?

George Steiner erzählte einmal, wie die Bewohner eines kleinen mährischen Dorfes, in dem Steiners Großmutter und Großvater gelebt hatten, als sie vom Tod Leo Tolstois 1910 hörten, spontan aus ihren Häusern gingen, um dem großen Schriftsteller stillschweigend Respekt zu zollen, obwohl die meisten von ihnen nie ein Wort von dem gelesen hatten, das der große Schriftsteller geschrieben hatte. Sie haben diesen Tod irgendwie als persönlichen Verlust erlebt. Da sie sich dieses Gefühl nicht erklären konnten, gingen sie zu ihrem örtlichen Rabbiner und fragten ihn, warum sie das fühlten, was sie fühlten. Er erklärte ihnen, dass Tolstoi in gewisser Weise „das Gewissen der gesamten Menschheit“ darstelle.

Seitdem gab es wahrscheinlich keine derart einflussreichen globalen Gewissensstimmen, zumindest nicht im Bereich der literarischen Produktion. Und es ist offensichtlich, dass die Kriterien für die Bestimmung der Größe eines Schriftstellers bei der Vergabe eines jährlichen Preises nicht so hoch sein können und dürfen, vor allem, wenn ein solcher in Stockholm vergeben wird. Aber diese offensichtliche und unbestreitbare Tatsache hat anscheinend den Kern des Problems verdunkelt, der mit der Natur dieser Kriterien zu tun hat, nicht nur in diesem, sondern auch in jedem anderen Bereich.

Wie Handkes unbestreitbar großer Landsmann Hermann Broch auf brillante Weise gezeigt hat, können die ästhetische Dimension und die ethische Dimension nicht getrennt werden, da sie im Wesentlichen eins sind. Denn was das Wesen des Menschen anbelangt, was seine Menschlichkeit bestimmt, so ist der Mensch nicht geteilt, und daher kann auch seine Kreativität nicht geteilt werden, wenn sie als eine richtig menschliche Tätigkeit anerkannt werden soll. In der Tat sah Broch in einer kraftvollen und künstlichen Trennung von Ästhetik und Ethik den Ursprung des Kitschs. Kein menschlicher Akt ist, sofern er ein authentischer Akt des Menschen ist, ethisch neutral, und Ästhetisierung, deren Kitsch der Höhepunkt ist, führt immer und ausschließlich zur Entmenschlichung, weil sie selbst eine Folge der radikalen Abnahme der Menschlichkeit im Menschen ist.

Das bedeutet natürlich nicht, dass Befürworter von didaktischer Kunst und ähnlichem Unsinn jemals Recht hatten, und dass die „l’art-pour-l’art“ -Reaktion in ihren vielfältigen Formen völlig ungerechtfertigt war. Ganz im Gegenteil. Denn es sind genau die Moralprediger, die Ethik im engeren Sinne auf Moral reduzieren, das heißt auf etwas, das außerhalb des Menschen liegt: Regeln, Normen, Vorschriften, die diesen den höchsten Wert verleihen. Wahrhaft ethisch oder moralisch ist andererseits das Innerste für den Menschen, weil es mit seiner Freiheit zu tun hat. Die Moral der Moralprediger bezieht sich ausschließlich auf den sozialen Aspekt des menschlichen Lebens, der ihr Vorrang vor allen anderen Aspekten einräumt. Der reale, ethische Moralismus bezieht sich auf das Vorhandensein der höchsten Idee des Guten in allen Aspekten des menschlichen Lebens. In dieser Perspektive ist ein Schriftsteller wie Sade beispielsweise ein moralistischer Autor par excellence: Abgesehen von seinem unvergleichlich teuflischen Angriff auf die Grundlagen der Ethik, aus rein“ästhetischer“ Sicht, ist er völlig bedeutungslos. Auf diesem Angriff beruht seine ganze Größe.

Auf diese entscheidende Frage der Größe sowie auf jede andere entscheidende Frage unserer Zeit hat Simone Weil am Vorabend und während des Zweiten Weltkriegs – vermutlich auf die zutreffendste und eindringlichste Weise – hingewiesen. In ihrem 1943 verfassten Werk Die Einwurzelung (L’Enracinement), das heute als ihr wichtigstes Werk gilt und eine Art Programm für die notwendige Nachkriegsreform der Franzosen und damit implizit aller anderen westlichen Länder sein soll, wird betont, dass eines der Hauptprobleme dieser Gesellschaften ihre gemeinsame Vorstellung von Größe ist. Diese Vorstellung, die sie „römisch“ und „imperialistisch“ nennt, basiert genau auf einer Vision von Größe als etwas, das von der Ethik bzw. vom Menschen getrennt werden kann und in dem jede Größe in Bezug auf Macht betrachtet wird – natürlich auch, die Macht der öffentlichen Meinung. Solange eine Gesellschaft, argumentierte Weil, diese Vorstellung nicht vollständig ausräumt, wird sie in keinem Bereich echte Fortschritte erzielen können, auch nicht auf kulturellem und literarischem Gebiet. Stattdessen wird sie hilflos und unwiderruflich zusammenbrechen, bis sie sich in der Apotheose des Mittelmaßes selbst zerstört. Doch wie in Tolstois Fall weigerte sich die Welt erneut, auf ihre Gewissensstimmen zu hören und schlug genau den umgekehrten Weg ein.

Vielleicht wäre es auch unter diesem Gesichtspunkt nicht völlig nutzlos, sich dem Phänomen der scheinbar kontroversen Vergabe des Literaturnobelpreises in diesem Jahr anzunähern. Zumindest würde es uns ermöglichen, ein bisschen tiefer zu gehen als die Streitereien zwischen Für und Wider; Streitereien, die wiederum nichts erhellen und nur der Unterhaltung von Intellektuellen und denen dienen, die diese Unterhaltung für unterhaltsam halten. In diesem Licht könnte sich herausstellen, dass die Entscheidung des Stockholmer Ausschusses keineswegs kontrovers, sondern durchaus verständlich, konventionell oder sogar banal ist. Ein solcher Blick auf die Dinge könnte, für einen Moment akzeptiert, sogar dazu führen, dass Intellektuelle ihre übliche kritische Haltung gegenüber den Stockholmer Kriterien ein wenig einschränken und in ihnen dieselben anerkennen, die sie selbst unbewusst hegen – und perzipieren, dass es insgesamt eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass nichts Größeres als Peter Handke in den Flachwassern der heutigen Weltliteratur zu angeln ist.

Autor: Marko-Marija Gregorić (Ersterscheinung in kroatischer Sprache auf dem Portal arteist.hr am 14. Oktober 2019)

Übersetzung: Natali Tabak Gregorić

Lektur: Dana Jungbluth

(Bildnachweis: picture alliance/dpa/APA/picturedesk.com / aus einem Beitrag von Deutschlandfunk Kultur vom 5.11.19)


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