Habt Mut!

Mein Plan für den heutigen Abend war ein schönes Buch, auf das ich mich schon seit längerem freue und das zum Lesen, oder besser, zum Hineinleben bereitliegt.

Beim Schreiben darüber kribbelt es mir schon wieder in den Fingern und im Bauch, da ich dem Inhalt dieses Buches gespannt und aufgeregt entgegenfiebere. Irgendwie so, als wäre man verliebt. Umso perfekter wünsche ich mir die Atmosphäre zum Eintauchen in diese besondere „Reise“. Vielleicht kennen Sie das. Jedes Kissen muss sich dem Körper exakt anschmiegen, keine Wehwehchen, die einen plagen, ein leckeres Getränk bereitstehend und es muss ruhig sein. Vor allem im Kopf. Und das ist etwas, das ich derzeit nicht schaffe. Das Buch vermag es bestimmt, jedoch will ich ihm auch gerecht werden. Es nicht bloß abhandeln. Ein Spleen vielleicht. Oder eine Leidenschaft. Wie das Schreiben. Dem ich jedoch zwingend nachgehen muss, um den Kopf frei und die Finger ruhig zu kriegen. Heute Abend ganz speziell für Sie, liebe Leser, die Sie öfter als Sie vielleicht glauben mögen, in meinem Kopf umherschwirren. Einige von Ihnen derzeit sogar ganz besonders.

Es sind viele Menschen, die auf mich zukommen, um mir ihr Herz auszuschütten, mich um Rat zu fragen, mir in bestimmten Dingen zuzustimmen, mich zu loben oder mir gar zu danken. Dafür, dass ich über Themen schreibe, über die Sie sich selbst öffentlich nicht zu äußern trauen. Es sind überwiegend Frauen, aber auch Männer, aus allen erdenklichen sozialen Schichten und beruflichen Positionen und Ämtern, die mir immer häufiger offenbaren „Ich kann nicht mehr!“ und die Frage anfügen „Was soll ich tun?“. Vor allem aber sind es allesamt Menschen wie Sie und ich. Mütter, Väter, Großeltern, Freunde. Mitmenschen. Brüder und Schwestern.

Diese Verzweiflung und fast entschuldigende Haltung vieler Menschen besorgt mich mehr als jede Gefahr, vor der man uns seit etlichen, langen Monaten rund um die Uhr warnt. Warnschilder an den Menschen würden in meinen Augen inzwischen mehr Sinn machen als an jedem erdenklichen Eingangsbereich irgendeines noch geöffneten Irgendwas. Ein Eingang zu was überhaupt? Zu einem Hochsicherheitstrakt? Es wirkt fast so. Nein, wir brauchen keine Verbotsschilder mehr, wir brauchen dringend jeder unser eigenes Warnschild. Oder nennen wir es Hilfeschild.

„Bitte halten Sie keinen Abstand, ich brauche eine Umarmung!“

„Bitte schreien Sie mich nicht an, weil ich die Maske unter der Nase trage, ich habe Angst zu ersticken!“

„Bitte nennen Sie mich nicht einen Gefährder, weil ich Ihnen unbedacht zu nahe gekommen bin, ich musste mein Geschäft aufgeben und habe gerade einfach andere Ängste im Kopf!“

„Bitte nötigen und stellen Sie mich nicht bloß, weil ich Ihr Geschäft ohne Maske betrete, ich wurde einst gewürgt und bekomme furchtbare Panik, wenn ich dazu gezwungen werde, meine Atemwege zu bedecken!“

„Bitte verurteilen Sie uns nicht, weil wir mit mehr Personen als gestattet draußen zusammenkommen, für einen von uns ist es vielleicht das letzte Mal!“

„Bitte halten Sie Abstand zu mir, ich bin schwer krank und zusätzliche Viren können sehr gefährlich für mich werden!“

All diese individuellen Schilder bräuchte es, dass wir aufhören, mit dem Finger aufeinander zu zeigen. Oder wir trauen uns einfach wieder, unsere eigenen Sorgen und Ängste einander mitzuteilen.

Mein Rat an Sie ist daher: Seien Sie mutig! Teilen Sie sich mit! Sagen Sie stets, was Sie denken! Wenn Sie schweigen, werden Sie nicht gehört und wenn Sie fragen, was Sie bloß tun sollen, so ist ein erster Schritt, Dinge auszusprechen. Am besten laut und deutlich! Denn wo kein Einwand oder Bedenken geäußert wird, wird sich auch nichts ändern. Sie sind nicht allein! Das bleiben Sie, wenn Sie weiter nur flüstern und in Deckung gehen. Wer soll sich dort für Sie interessieren? Man wird Sie nicht beachten, vergessen und verhungern lassen. Nehmen Sie stattdessen Ihren Schutzschild und laufen aufrecht durch das Kanonenfeuer, um Ihr Ziel zu erreichen: sich selbst zu retten. Das geht auch, ohne andere dabei zu verletzen.

Das braucht Entschlossenheit, Mut, ein dickes Fell und Risikobereitschaft. Wenn Sie aber merken oder gar wissen, dass Sie selbst oder Ihre Liebsten gefährdet sind, werden Sie diesen Kampf führen müssen. Er wird sich lohnen! Und wenn Sie die Augen öffnen und sich umsehen auf dem Feld, werden Sie erkennen, wie viele denselben Kampf führen und Ihnen beistehen. So viele, dass die Kanonenkugeln, die man auf Sie feuert, am Ende wie Tischtennisbälle zwar unberechenbar und wild herumspringen, bei einem Treffer an Lächerlichkeit jedoch nicht zu überbieten sind. Die Perspektive macht`s.

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