Es überrascht nicht, dass die Entscheidung, Peter Handke einen Nobelpreis für Literatur zu verleihen, viele heftige Reaktionen ausgelöst hat. Es ist auch keine Überraschung, dass die Reaktionen – insbesondere von professionellen Schriftstellern und Intellektuellen, die sich am meisten dazu verpflichtet fühlen, solche Reaktionen hervorzurufen – zumeist auffallend einheitlich, banal, wenn nicht sogar ganz und gar klischeehaft sind. Meiner Meinung nach liegt es daran, dass die ganze Frage fast zwangsläufig in falscher und oberflächlicher Weise gestellt wurde.
Handke ist ein großartiger Schriftsteller, aber er hat sich politisch verirrt – dies ist ungefähr das Mantra, das von Meinungsbildnern akzeptiert wird, die sich entweder für oder gegen dieses aussprechen. Die ersten sind diejenigen, die Wert auf den ersten Teil des Mantras legen und der Meinung sind, dass seine Größe als Schriftsteller Vorrang vor seinen politischen oder moralischen Abweichungen hat und dass er den Nobelpreis verdient hat. Die zweiten sind diejenigen, die dem zweiten Teil des Mantras Vorrang geben und behaupten, dass ein Schriftsteller, wie groß er auch sein mag, ein moralisches Vorbild sein sollte, um einen solch universell anerkannten und äußerst prestigeträchtigen Preis zu erhalten. Aber keine Seite wirft die Frage auf, die mir wesentlich erscheint: Was macht einen Schriftsteller großartig bzw. was bedeutet es, ein großartiger Schriftsteller zu sein?
George Steiner erzählte einmal, wie die Bewohner eines kleinen mährischen Dorfes, in dem Steiners Großmutter und Großvater gelebt hatten, als sie vom Tod Leo Tolstois 1910 hörten, spontan aus ihren Häusern gingen, um dem großen Schriftsteller stillschweigend Respekt zu zollen, obwohl die meisten von ihnen nie ein Wort von dem gelesen hatten, das der große Schriftsteller geschrieben hatte. Sie haben diesen Tod irgendwie als persönlichen Verlust erlebt. Da sie sich dieses Gefühl nicht erklären konnten, gingen sie zu ihrem örtlichen Rabbiner und fragten ihn, warum sie das fühlten, was sie fühlten. Er erklärte ihnen, dass Tolstoi in gewisser Weise „das Gewissen der gesamten Menschheit“ darstelle.
Seitdem gab es wahrscheinlich keine derart einflussreichen globalen Gewissensstimmen, zumindest nicht im Bereich der literarischen Produktion. Und es ist offensichtlich, dass die Kriterien für die Bestimmung der Größe eines Schriftstellers bei der Vergabe eines jährlichen Preises nicht so hoch sein können und dürfen, vor allem, wenn ein solcher in Stockholm vergeben wird. Aber diese offensichtliche und unbestreitbare Tatsache hat anscheinend den Kern des Problems verdunkelt, der mit der Natur dieser Kriterien zu tun hat, nicht nur in diesem, sondern auch in jedem anderen Bereich.
Wie Handkes unbestreitbar großer Landsmann Hermann Broch auf brillante Weise gezeigt hat, können die ästhetische Dimension und die ethische Dimension nicht getrennt werden, da sie im Wesentlichen eins sind. Denn was das Wesen des Menschen anbelangt, was seine Menschlichkeit bestimmt, so ist der Mensch nicht geteilt, und daher kann auch seine Kreativität nicht geteilt werden, wenn sie als eine richtig menschliche Tätigkeit anerkannt werden soll. In der Tat sah Broch in einer kraftvollen und künstlichen Trennung von Ästhetik und Ethik den Ursprung des Kitschs. Kein menschlicher Akt ist, sofern er ein authentischer Akt des Menschen ist, ethisch neutral, und Ästhetisierung, deren Kitsch der Höhepunkt ist, führt immer und ausschließlich zur Entmenschlichung, weil sie selbst eine Folge der radikalen Abnahme der Menschlichkeit im Menschen ist.
Das bedeutet natürlich nicht, dass Befürworter von didaktischer Kunst und ähnlichem Unsinn jemals Recht hatten, und dass die „l’art-pour-l’art“ -Reaktion in ihren vielfältigen Formen völlig ungerechtfertigt war. Ganz im Gegenteil. Denn es sind genau die Moralprediger, die Ethik im engeren Sinne auf Moral reduzieren, das heißt auf etwas, das außerhalb des Menschen liegt: Regeln, Normen, Vorschriften, die diesen den höchsten Wert verleihen. Wahrhaft ethisch oder moralisch ist andererseits das Innerste für den Menschen, weil es mit seiner Freiheit zu tun hat. Die Moral der Moralprediger bezieht sich ausschließlich auf den sozialen Aspekt des menschlichen Lebens, der ihr Vorrang vor allen anderen Aspekten einräumt. Der reale, ethische Moralismus bezieht sich auf das Vorhandensein der höchsten Idee des Guten in allen Aspekten des menschlichen Lebens. In dieser Perspektive ist ein Schriftsteller wie Sade beispielsweise ein moralistischer Autor par excellence: Abgesehen von seinem unvergleichlich teuflischen Angriff auf die Grundlagen der Ethik, aus rein“ästhetischer“ Sicht, ist er völlig bedeutungslos. Auf diesem Angriff beruht seine ganze Größe.
Auf diese entscheidende Frage der Größe sowie auf jede andere entscheidende Frage unserer Zeit hat Simone Weil am Vorabend und während des Zweiten Weltkriegs – vermutlich auf die zutreffendste und eindringlichste Weise – hingewiesen. In ihrem 1943 verfassten Werk Die Einwurzelung (L’Enracinement), das heute als ihr wichtigstes Werk gilt und eine Art Programm für die notwendige Nachkriegsreform der Franzosen und damit implizit aller anderen westlichen Länder sein soll, wird betont, dass eines der Hauptprobleme dieser Gesellschaften ihre gemeinsame Vorstellung von Größe ist. Diese Vorstellung, die sie „römisch“ und „imperialistisch“ nennt, basiert genau auf einer Vision von Größe als etwas, das von der Ethik bzw. vom Menschen getrennt werden kann und in dem jede Größe in Bezug auf Macht betrachtet wird – natürlich auch, die Macht der öffentlichen Meinung. Solange eine Gesellschaft, argumentierte Weil, diese Vorstellung nicht vollständig ausräumt, wird sie in keinem Bereich echte Fortschritte erzielen können, auch nicht auf kulturellem und literarischem Gebiet. Stattdessen wird sie hilflos und unwiderruflich zusammenbrechen, bis sie sich in der Apotheose des Mittelmaßes selbst zerstört. Doch wie in Tolstois Fall weigerte sich die Welt erneut, auf ihre Gewissensstimmen zu hören und schlug genau den umgekehrten Weg ein.
Vielleicht wäre es auch unter diesem Gesichtspunkt nicht völlig nutzlos, sich dem Phänomen der scheinbar kontroversen Vergabe des Literaturnobelpreises in diesem Jahr anzunähern. Zumindest würde es uns ermöglichen, ein bisschen tiefer zu gehen als die Streitereien zwischen Für und Wider; Streitereien, die wiederum nichts erhellen und nur der Unterhaltung von Intellektuellen und denen dienen, die diese Unterhaltung für unterhaltsam halten. In diesem Licht könnte sich herausstellen, dass die Entscheidung des Stockholmer Ausschusses keineswegs kontrovers, sondern durchaus verständlich, konventionell oder sogar banal ist. Ein solcher Blick auf die Dinge könnte, für einen Moment akzeptiert, sogar dazu führen, dass Intellektuelle ihre übliche kritische Haltung gegenüber den Stockholmer Kriterien ein wenig einschränken und in ihnen dieselben anerkennen, die sie selbst unbewusst hegen – und perzipieren, dass es insgesamt eine hohe Wahrscheinlichkeit gibt, dass nichts Größeres als Peter Handke in den Flachwassern der heutigen Weltliteratur zu angeln ist.
Autor: Marko-Marija Gregorić (Ersterscheinung in kroatischer Sprache auf dem Portal arteist.hr am 14. Oktober 2019)
Übersetzung: Natali Tabak Gregorić
Lektur: Dana Jungbluth
(Bildnachweis: picture alliance/dpa/APA/picturedesk.com / aus einem Beitrag von Deutschlandfunk Kultur vom 5.11.19)
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